Cojocna [46,75° N, 23.84° O] – Wo die Uhren anders ticken
Helene Scharfe – IJFD Teilnehmerin 2022-23
An was denkst du, wenn du Rumänien hörst? An Vampire, eisige Winter und romantische Gehöfte im Sonnenuntergang? So ging es mir, bis ich im September 2022 nach Cojocna kam.
Durch eine holprige, unbefestigte Straße ist Jeler, eine der Roma Siedlungen Cojocnas, mit der Außenwelt verbunden. Auch wenn inzwischen viele neue Häuser gebaut wurden, es ein Abwassersystem, Müllabfuhr und Strom gibt, spielt sich das Leben meistens auf eben dieser Straße ab. Die Erwachsenen sitzen vor kleinen Kiosken zusammen, Kinder spielen und rennen überall herum.
„Wer bist du?“, „Wo gehst du hin?“, „Bleibst du hier?“, wirst du etwa hundert Mal gefragt werden, freundlich, mit einem herzlichen Lachen oder schüchternem Lächeln. Dann bist du da, wirst von allen freudig gegrüßt und von den Kindern liebend gern umarmt.
Am Ende dieser Straße steht das Zentrum. Ein großes Haus in dem es Waschmaschinen, Duschen, Toiletten, Klassenräume und Spielzimmer und eine Kirche gibt. Die Freiwilligen wohnen auf der oberen Etage in einer gemütlichen Wohnung, die schöner und besser eingerichtet nicht sein könnte. Es gibt eine Küche, ein großes warmes Zimmer mit wunderschöner Aussicht über die weite Hügellandschaft Transsylvaniens.
Womit ich jedoch nicht gerechnet habe, sind die vielen streunenden Hunde. Laut bellend und zum Angriff bereit verteidigen sie ihr Revier. In meiner Tasche befinden sich immer einige Steine, mit denen ich mich notfalls verteidige. Vor allem auf Wanderungen, sind Begegnungen mit aggressiven Hunden unvermeidlich.
Aber was genau ist eigentlich die Aufgabe der Freiwilligen?
Um es kurz zu sagen: die Dinge am Laufen halten.
Du wirst mit einem riesigen Schlüsselbund über alle Türen herrschen, bei Bauarbeiten rund um das Zentrum helfen und im Haus sortieren, räumen und alles so verwalten, dass möglichst viel genutzt werden kann.
Den ganzen Tag lang kommen Frauen zum Waschen und nachmittags dann die Kinder zum Spielen. Täglich gibt es Konflikte, die es zu lösen gilt. Was ist, wenn fünf Frauen waschen wollen, es aber nur vier Waschmaschinen gibt? Was muss man machen, wenn es mal wieder einen Stromausfall gab und alle Waschmaschinen unterbrochen wurden?
Deine Aufgabe ist es, da zu sein, um die vielen Türen auf und auch wieder zuzuschließen. Arbeitszeiten und Methoden kannst du dir dabei selbst setzen. Darin bist du genau so frei, wie in allen anderen Bereichen. Es erfordert eine Menge Selbstorganisation und Kreativität, sich ein Programm auszudenken, mit dem du den Menschen am besten helfen kannst. Aber das ist es auch, was so viel Spaß macht. Du bist frei und kannst wirklich etwas bewegen.
Es gibt so viele Möglichkeiten: mit den Kindern zu Basteln, Brettspiele, Tischtennis oder Basketball zu spielen, Filme zu schauen, zu singen, zu tanzen, Yoga zu machen oder einfach herumzualbern. Viele freuen sich auch, englische Gedichte zu lernen oder mit Besen und Wischmop bewaffnet, das ganze Haus auf Hochglanz zu bringen. Du hast die Möglichkeit alles auszuprobieren, was du nur möchtest. Niemand wird dir sagen, was du zu tun und zu lassen hast.
Der Pfarrer des Dorfes wird dein Ansprechpartner sein. Părintele, der Vater, wird er von allen genannt und irgendwie fühlt es sich genau so an. Ihn kannst du immer um Rat fragen und alle Probleme ansprechen. Er nimmt dich in seine Familie auf, lädt dich zum Essen ein und sorgt sich um dich. Wenn du Klavier oder Gitarre spielst kannst du seinen drei Töchtern Unterricht geben, aber auch sonst kannst du jederzeit zu ihm kommen.
Aber… So einfach, wie es klingt ist es dann doch nicht.
Dein größtes Problem, aber auch deine größte Chance wird die Sprache sein. Eigentlich spricht niemand eine andere Sprache als Rumänisch oder Romanes. Englisch Fehlanzeige. Dadurch wirst du von Anfang an nur in Rumänisch kommunizieren. Die ersten Wochen sind hart, aber schon nach kurzer Zeit wirst du dich etwas verständigen können. Da du viel Zeit haben wirst, in der du nicht aktiv arbeiten musst, gibt es genug Freiraum zum Lernen der rumänischen Sprache, die dann natürlich sofort angewendet werden kann. Gerade in den ersten Wochen ist die Motivation riesig, denn mit jeder neuen Vokabel, machen die Leute mehr, was du willst.
Und dies ist auch schon die nächste Schwierigkeit. Durch die Sprachbarriere und die Tatsache, dass nur etwa die Hälfte der Menschen lesen kann, ist es oft schwer, Regeln zu etablieren. Du Wohnst, wo du arbeitest, bist in den Augen der Siedlungsbewohner immer verfügbar und kannst dich niemals ganz zurückziehen. Was nützen bunte Schilder mit Öffnungszeiten, wenn sie niemand lesen kann? Die vielen Morgen, an denen du durch ohrenbetäubendes Klopfen aus dem Schlaf gerissen wirst, das Laute Rufen deines Namens, wenn du gerade isst oder duschst, all das kann sehr anstrengend sein.
Du wirst es niemals allen recht machen können und viele Unhöflichkeiten erfahren. Aber auf der anderen Seite wirst du die beste Spielkameradin oder der beste Freund der Menschen sein. Vor allem die Kinder werden dir ganz direkt zeigen, wie sehr sie dich mögen. Spätestens wenn du die schlammig, holprige Straße passierst, Kinder Dir mit einem breiten Lachen entgegenrennen, Dich fragen wohin du gehst und ob du nicht noch kurz mit ihnen spielen kannst, weißt du, dass du genau das Richtige tust.