– Hannah Köveker weltwärts Freiwillige August 2016-August 2017

Besonders wichtig für meine Perspektive auf mein neues soziales Umfeld war wohl Weihnachten in Tansania. Meine Gastfamilie machte mir das schöne Geschenk einer Einladung in ihr Heimatdorf Kirua Vunjo, das an den Hängen des Kilimanjaro liegt. Meine Gasteltern sind Wachaga, einer der vielen Tribes in Tansania. Aufgrund von starker Vermischung der Tribes in Tansania, Migration sowie der spezifischen politischen und sozialen Geschichte des Landes, ist die Identifikation mit dem eigenen Tribe für die meisten Menschen, die ich während meiner Zeit in Tansania kennenlernte, im Vergleich zu ihrer Identität als Tansanier*innen in den Hintergrund gerückt. Dennoch gibt es noch ein starkes Verbundenheitsgefühl, durch eigene lokale Sprachen, Traditionen und die gemeinsame Herkunftsgeschichte. So sind Wachaga beispielsweise dafür bekannt, über Weihnachten und Silvester zurück in ihre Heimatregion um die Stadt Moshi am Kilimanjaro zu fahren, wo viele Familien noch ein Grundstück und Haus haben, auch wenn sie den Großteil des Jahres in den Städten, in denen es bessere Geschäftsmöglichkeiten gibt, verbringen. Ich möchte deshalb von meiner Zeit dort, gemeinsam mit meiner Gastfamilie erzählen, weil mir währenddessen viel über meine eigene Perspektive klar wurde und die Erlebnisse in Kirua Vunjo gemeinsam mit Baba und Mama, meinen tansanischen Onkeln, Tanten, Geschwistern und Cousin*en mir eine kritische Reflexion über die vorangegangenen vier Monate in meinem tansanischen Umfeld ermöglichten. So lernte ich beispielsweise meine engsten Bezugspersonen, meine tansanischen Eltern, besser kennen und musste bewusst erlangte Annahmen und unterbewusst getroffene Urteile über den Haufen werfen.

Aus Beobachtungen in meiner Gastfamilie leite ich einen meiner gesamtgesellschaftlichen Schlüsse ab: Menschen leben in unterschiedlichen Umfeldern unterschiedliche Facetten ihrer Identität aus. Auch nachdem ich vier Monate mit den beiden verbracht hatte, waren mir wichtige Wesenszüge verborgen geblieben, weil sich diese eben nur in speziellen Kontexten offenbaren. Ich hatte beispielsweise in Tanga den Eindruck gewonnen, mit einem gesetzten, eher konservativen Ehepaar zusammenzuleben. Mir war zwar immer bewusst, dass meine Gasteltern außergewöhnliche Menschen sind – Beide sind über 60, wirken deutlich jünger und haben mir gegenüber immer eine Offenheit, ein Interesse und eine Toleranz an den Tag gelegt, die Quell eines großen Respekts meinerseits ihnen gegenüber ist. –, ich nahm sie aber aufgrund ihres streng geregelten Alltags in meiner tansanischen Heimatstadt und ihrem Wohnort Tanga, ihres gesellschaftlichen Ansehens dort als hart arbeitendes Ehepaar, das vier Kinder erfolgreich in eine gute Zukunft geführt hat, und ihres Umgangs miteinander wegen als Paar wahr, das Erschütterungen ihrer Routine und ihrer Tradition auf intellektueller Ebene interessant, auf Alltagsebene allerdings eher als störend empfindet. Im Familienverband war mein Bild von ihnen jedoch eher das zweier flexibler Menschen und ich sollte diese Perspektive auch zurück in Tanga nicht verlieren. Beide, vor allem aber meine Gastmutter Frida, schienen mir in Kirua Vunjo deutlich freier und gelöst von gesellschaftlichen Formeln und ritualisierten Hierarchien. Ich will versuchen diesen Eindruck zu ergründen. Als ich in Kirua Vunjo ankam – meine Gasteltern waren schon einige Tage früher vorgefahren -, fiel mir auf, dass der Aufbau des Geländes und des Hauses dort und in Tanga sich sehr glichen. Ich fragte meine Mutter danach, weshalb es hier so sei wie in Tanga und sie antwortete mir, es verhielte sich umgekehrt. Das Haus in Tanga, sei ihrem eigentlichen Zuhause hier am Kilimanjaro nachempfunden. “Hii ni nyumbani.”, sagte sie, was so viel bedeutet wie “Hier ist unser Zuhause.” Es scheint mir daher fast schon eine logische Konsequenz, dass sie sich in Kirua Vunjo freier verhält als in Tanga, das sie nur aus Zweckmäßigkeit als Zweitheimat akzeptiert. Umgeben von der Großfamilie im gemeinsamen Ursprung schienen andere Regeln zu gelten, vielleicht auch einfach weniger Regeln.

Einen spezifischen Unterschied, den ich an meiner Gastmutter und in der Beziehung zwischen ihr und Baba wahrnahm, war der, dass mir die Hierarchie zwischen ihnen geringer schien. In Tanga hatte ich den Eindruck gewonnen, dass sie zwar eine an den Bedürfnissen beider ausgerichtete Ehe führten, aber mein Gastvater gerade in Sachdiskussionen das letzte Wort behielt. In Kirua Vunjo revidierte ich diesen Eindruck – meine Gastmutter war deutlich engagierter in Diskussionen und Entscheidungen. Auch die Schwestern meines Gastvaters sowie die Frauen seiner Brüder wirkten auf mich als sehr starke, entscheidungsbereite Frauen. Das stand für mich in einem gewissen Widerspruch zu dem, was ich zuvor in Tansania in meinem nahen Umfeld gesehen hatte. Zwischen meinen Gasteltern beispielsweise hatte ich öfters Situationen wahrgenommen, in denen sie nicht als gleichberechtigte Partner*innen auftraten. Insgesamt schienen mir Frauen in Tanga oft als in sozialen Beziehungen benachteiligt und dieser Struktur konform. Auch hatte ich den Eindruck, dass von mir als junger Frau oft erwartete wurde, mich im Einklang mit einem ruhigen, gehorsamen Frauenbild zu verhalten. In Kirua Vunjo stellte sich dieses Bild komplett auf den Kopf. Meine Tante Agnes, die Schwester meines Gastvaters, koordinierte souverän die gesamte Planung der Weihnachtstage, verteilte in selbstverständlichem Ton Aufgaben an alle jung wie alt, männlich wie weiblich, und kümmerte sich um die Finanzen. Meine Cousine Dora, die Mitte zwanzig ist, wurde von allen als selbstbewusste, schlagfertige und eigenwillige junge Frau akzeptiert und respektiert. Die Frauen der Familie waren in politischen Diskussionen wie auch in Entscheidungen die Familie betreffend durch die Bank weg sehr aktiv.

Meinem Cousin Adam half ich am ersten Weihnachtstag eine Ziege zu schlachten und als Weihnachtsmal zu bereiten. Dabei führte er mich in einige traditionelle Besonderheiten der Geschlechterrollenverteilung bei den Chaga ein. In der alten Praxis der Vererbung von Familienbesitz ist es nicht möglich an Frauen Land zugeben. Allerdings war schon Adams  Großvater der Ansicht, dass damit großes Potenzial in der Familie vergeudet und seinen Töchtern Kapital für ein selbstbestimmtes Leben verwehrt wird. Da ein direkter Traditionsbruch für ihn nicht möglich war, förderte er seine beiden Töchter ganz explizit in ihrer Ausbildung. Eine wurde Ärztin, und Mitbegründerin eines Krankenhauses ganz in der Nähe meines Zuhauses in Tanga, die andere ist eine renommierte Botanikerin.

Ich habe aus diesen Beobachtungen und Schilderungen einiges über meine eigene Wahrnehmung gelernt. Am Anfang meiner Zeit in Tansania hat sich der Eindruck manifestiert, Frauen seien in Tansania diskriminiert und hätten wenig Freiheit sich persönlich zu entfalten und auszudrücken. Diesem in Teilen vermutlich korrekten Eindruck, habe ich vorschnell zu viel und zu endgültige Bedeutung zugemessen und damit den Menschen in meiner Umgebung die Fähigkeit abgesprochen sensibel für dieses Problem zu sein und Lösungen dafür zu finden. Ich denke, dass gerade in einem neuen Umfeld die Gefahr, erste Annahmen zu generalisieren und als unumstößlich anzunehmen groß ist. Die Eindrücke, die verarbeitet werden müssen, wenn ein Mensch in ein komplett neues Umfeld eintaucht sind zu vielfältig, als dass ein umfassend differenzierter Blick möglich wäre. Es ist fast schon notwendig zu generalisieren, um mit der Flut an Wahrnehmungen und Impulsen fertig zu werden. Das Risiko dabei ist, diese ersten Eindrücke für endgültig zu erklären und nicht mehr offen für Dinge zu sein, die sie in Frage stellen. Denn damit verbaut man sich die Möglichkeit das neue Umfeld, als das zu sehen, was es ist: vielfältig, widersprüchlich und nicht mit Generalannahmen zu erfassen. Die Widersprüche zwischen der Frauenrolle, wie ich sie bisher angenommen hatte, und dem Verhalten der Frauen in meiner tansanischen Großfamilie haben auch nachhaltig meine Wahrnehmung des Verhältnisses meiner Gasteltern beeinflusst: ich habe die gelegentlich auftretende Disbalance in ihrer Ehe seither eher als Konzessionen an eine traditionsgeprägte Gesellschaft gesehen. Eine Gesellschaft die deshalb wichtig ist, weil sie Stabilität und einen klaren Rahmen bietet. Das bedeutet aber nicht, dass die Menschen innerhalb dieses Rahmens keinen kritischen Blick auf die sozialen Begrenzungen, die er mit sich bringt, haben können und Anstrengungen machen können, füreinander als Individuen gangbare Lösungen zu finden.

Individuelle wie auch kollektive Identitätsbildung funktioniert  immer in Abgrenzung zu und Anpassung an einen gesamtgesellschaftlichen Konsens. Dieser gesamtgesellschaftliche Konsens wird wiederum von den einzelnen und Gruppenidentitäten beeinflusst. Die Einflussfaktoren auf diese jeweiligen Prozesse sind in Tansania sicher sehr andere als in Deutschland. In beiden Fällen gilt aber, dass kulturelle Wahrnehmung kontextabhängig ist. Die individuellen wie auch kollektiven Realitäten sind immer anfechtbar. Die Menschen und Lebenskonzepte überall auf dieser Welt sind divers und daraus resultieren viele Möglichkeiten, funktionierende, respektvolle Gemeinschaften zu kreieren.

Im Fazit möchte ich nochmal darauf Hinweisen, dass mehrere Monate oder gar ein Jahr meiner Ansicht nach eine viel zu kurze Zeit sind, um sich endgültige Urteile über eine neu entdeckte Gesellschaft zu erlauben.